In Zusammenarbeit mit der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Venedigs beteiligte sich die Münchner Lukaskirche an einer Kunstaktion, das die Künstler, Thomas Huber und Wolfgang Aichner »ein aktionistisches, transalpines Drama« nannten. Sie zogen ein selbstgebautes knallrotes Boot über die Alpen bis nach Venedig. In der Lukaskirche wurde der Weg dokumentiert.
Die Nürnberger Egidienkirche und die Münchner Lukaskirche gelten als Kulturkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ein Plädoyer für die Kultur in den Kirchen:
Machen wir uns auf die Reise. Sagen wir, nach Dannenwalde. Dort steht eine neugotische Kirche, die schon viele Reisende gesehen hat: Unter dem Motto »Kultur und Kirche am Weg« wird hier gepredigt und erzählt, getanzt und getrunken, musiziert und ausgestellt. Ein paar Hundert Kilometer weiter westlich in Bremen dürfen Künstler in der Hallenkirche von St. Stephani monumentale Sandpyramiden aufschütten oder die Wände bemalen, abends predigen Theaterleute. Im süddeutschen Schopfheim an der Schweizer Grenze steht St. Michael, hier klingt und singt es regelmäßig konfessionsübergreifend, Gospelchöre, Kindermusik und Laienkonzerte machen den Ort zum »Mekka der Kirchenmusik«.
Die evangelischen Kirchen, von denen hier die Rede ist, werden in dem Band »Kulturkirchen – Eine Reise durch Deutschland« vorgestellt, das im vergangenen Jahr von der Kulturbeauftragten des Rates der EKD, Petra Bahr, herausgegeben wurde. Das Buch ist eine Art Positionsbestimmung, denn was eine Kulturkirche ist oder sein soll, wird gerade heftig diskutiert.
»Kulturkirchen sind Kirchen, die ihre kulturelle Dimension explizit machen, die den kulturellen Kontext, in dem sie stehen, sichtbar machen und die ihre kulturelle Ausdruckskraft mit den Mitteln der Gegenwartskultur hinterfragen«, schreibt Petra Bahr. Ihr geht es weniger um die kulturgeschichtliche Dimension, sondern um eine Begegnung mit Theater, Musik, Tanz, Malerei oder Literatur.
Die Verbindung von Kunst und Kirche, so macht die Theologin deutlich, sei immer ein Risiko, dass auch zu Konflikten führen könne. Denn Kirchen seien »Orte des lebendigen Glaubens«. Andererseits könnten Kulturkirchen zum Nachdenken zwingen und die Gegenwart sichtbar und spürbar werden lassen.
Reisen wir weiter, dieses Mal nach Berlin, wo im September 2011 der erste »Kirchen-Kulturkongress« der EKD stattfand. Der Kulturbeauftragte der Bundesregierung, Bernd Neumann, erklärte damals, dass die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages die beiden großen christlichen Kirchen zu den »maßgeblichen Kulturträgern« des Landes rechne. Das kam an bei den Teilnehmern. Weniger goutiert wurde der Auftritt des Künstlers Sam Keller: Er machte seinen Kirchenaustritt zur Live-Performance. Die Ratlosigkeit unter den geladenen Gästen und Honoratioren aus Kirche und Gesellschaft war groß, die Provokation gelungen.
Die Tagung sorgte immerhin für einen regen Austausch unter den Kunst- und Kulturschaffenden aus dem In- und Ausland. Die nächste Reise führte sie im Oktober 2011 nach München zur sogenannten »Konsultation«. Die von den Teilnehmern mitgebrachten Stellungnahmen machten deutlich, dass sich die inhaltlichen Konzepte zwar sehr voneinander unterscheiden. Einigkeit bestand jedoch in einigen Forderungen, die bereits Petra Bahr formuliert hat: Kirche benötigt eine stärkere inhaltliche und strategische Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst und Kultur, eine Professionalisierung der Arbeit – und mehr Geld. Im April 2012 folgte auf Betreiben der Münchner Akademieleiterin Jutta Höcht-Stöhr eine weitere Konsultation in München.
Kirchenaustritt als Kunstaktion?
Bei der »Kulturkirchenkonferenz« wurde exemplarisch durchgespielt, wie eine solche Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst und Kultur aussehen könnte. Unter dem Titel »Gastspiel« betraten Künstlerinnen, Musiker, Kirchenleute, Kulturpolitiker und Stadtmenschen fremdes Terrain und ließen sich »angeregt befremden« mit Performance-Kunst, Aktionen in der Stadt, Videoprojektionen oder einem Gottesdienst mit Theaterelementen. Ein besonderer Gewinn der Tagung war auch der Austausch mit Künstlern und kirchlichen Mitarbeitern aus Norwegen, den Niederlanden, Österreich und der Schweiz.
Für die Konferenz entwickelte Kurator Horst Konietzky ein Kunst-Buch mit dem Titel »Andacht – 50 neue Räume«. In dem kleinen Bändchen mit Daumenkino brennt eine Wunderkerze herunter, während 50 Autoren einen für sie besonderen Ort beschreiben. Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm wählt den Hauptbahnhof (»ein moderner Dom«), der Münchner Kulturreferent Hans-Georg Küppers die Großhesseloher Brücke (»an ihrem Fuße kommt sich der Mensch klein vor«), andere wählen U-Bahnstationen, die Theresienwiese oder das Müllersche Volksbad. Der Künstler Walter Siegfried belässt es beim »Irgendwo«, denn die »beste Möglichkeit, andächtige Momente zu erleben, besteht darin, ihnen dann Raum zu geben, wenn sie sich selbsttätig anmelden«, wie er schreibt.
Zeit, kurz innezuhalten auf der Reise. Das Kulturbüro der EKD zu gründen war, so viel steht fest, eine richtige und wichtige Entscheidung. Nur so konnte die Diskussion vorangetrieben werden. Die neue, bundesweite Landkarte evangelischer Kulturkirchen macht deutlich, wie vielfältig die Ausdrucksformen dieser Kultur sein können. Glaube ohne Kultur ist heute nicht mehr denkbar.
Im Enquete-Gutachten des Bundestages von 2005 (!) heißt es, dass Kirchen zwar »ausweislich ihrer finanziellen Aufwendungen zu den zentralen politischen Akteuren Deutschlands« gehören, in der Öffentlichkeit derzeit aber nur eine »periphere Rolle« zugebilligt bekommen. Die EKD-Kulturbeauftragte Petra Bahr hat diese Forderung weiter zugespitzt: Demnach benötigen Kulturkirchen »Expertise, Leidenschaft und – horribile dictu: Geld.« Kulturkirchen seien »mahnende Orte«, die die gesamte Kirche daran erinnern, dass ohne diese drei Güter auch das kulturelle Gedächtnis des Christentums verfällt und die Amnesie sich weiter ausbreitet.
Fakt ist, dass der überwiegende Teil der kulturellen Aktivitäten (die Kirchenmusik mal ausgenommen) in den Kirchen derzeit von engagierten Ehrenamtlichen organisiert wird. Das ist gut und wichtig so. Fakt ist aber auch, dass die meisten Gemeinden hart kämpfen müssen für Kulturprojekte und vieles nicht realisieren können, weil Sponsorengelder, Genehmigungen oder schlicht Mitarbeitende fehlen. Was nottut, ist eine Verstetigung und eine gewisse Institutionalisierung der Kulturkirchen. Nicht im Sinne eines neuen »Verstaubungsprozesses«, sondern im Sinne einer Öffnung und Weiterentwicklung.
Die Kirchen sollten, nein sie müssen mehr Geld in die Kultur stecken. Nicht nur die EKD, sondern auch die Landeskirchen sollten einen hauptamtlichen Kulturbeauftragten haben, der mit ganzer Kraft Kulturprojekte unterstützen und vorantreiben kann. Jede Landeskirche müsste nicht nur das rechtlich ohnehin obligatorische »Kunst am Bau«-Budget zur Verfügung stellen, sondern eine nennenswerte Summe für temporäre zeitgenössische Kulturprojekte ausgeben. Nur so könnten Dekanate und Gemeinden befähigt werden, mit professionellen Kuratoren, erfahrenen Medienleuten, renommierten Kunstkennern und internationalen Künstlern zu arbeiten. Die Reise muss weitergehen. Geht es nach der EKD und der Münchner Stadtakademie, so sollen die Konsultationen zu einer festen Institution werden. Doch nicht genug. Es muss weiter nach Lösungen gesucht werden.
Warum nicht in jeder Landeskirche eine rechtlich selbstständige Kunst- und Kulturstiftung gründen? Ähnlich wie die Kulturförderung der Europäischen Union oder die Kulturstiftung des Bundes könnte sich diese Stiftung für einen spartenübergreifenden, interdisziplinären Dialog und die Förderung innovativer Kulturprogramme und Projekte einsetzen.
Diese Stiftung könnte dafür sorgen, dass jeder Kirchenkreis regelmäßig berücksichtigt wird bei Kulturprojekten – nach einem ähnlichen Prinzip wie etwa die bayerischen Landesausstellungen, also mit festem Budget, externen Kuratoren und professionellen Kulturschaffenden. Eine solche Stiftung könnte auch ästhetische Kompetenz vermitteln und sich kulturpolitisch einbringen, so etwa in Bezug auf die Frage, wie kirchliche Kulturarbeit rechtlich und finanziell verbessert werden kann. Die Kulturstiftung des Bundes verfügt übrigens derzeit jährlich über rund 35 Millionen Euro.
Erschienen im Sonntagsblatt, Evangelische Wochenzeitung für Bayern, Ausgabe 21/2012 vom 20.05.2012